(Neue) Arbeitswelt

Hierarchiefreie Firmen – Sind Manager bald überflüssig?

Hierarchiefreie Firmen_Spielsteine
Geschrieben von Julia

Beginnen wir mit einem kleinen Gedankenexperiment und stellen uns vor, dass Sie ältere Verwandtschaft in den Niederlanden haben. Wenn Ihre Lieben auf häusliche Pflege angewiesen sind, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie von der Organisation Buurtzorg betreut werden, da deren Marktanteil bei über 40 % liegt. Ist die Pflegekraft von Termin zu Termin unterwegs, ist es weiterhin nicht unwahrscheinlich, dass ihr Fahrzeug eine Getriebegabel von einem französischen Hersteller namens FAVI hat – das Unternehmen hat in diesem Bereich sogar einen Marktanteil von über 50 %! Können Sie sich vorstellen, was die beiden erwähnten und auf den ersten Blick grundverschiedenen Firmen gemeinsam haben? Die Antwort lautet: Sie sind hierarchiefrei, das heißt es gibt zwischen dem CEO und der Belegschaft keine weiteren Managementebenen!

Hierarchiefreie Firmen? Wie kann das funktionieren?

Klassischen Unternehmensstrukturen liegt ein pyramidales Organigramm zugrunde: Es gibt einen Chef an der Spitze, der von wenigen Bereichsleitern unterrichtet wird, die wiederum mehrere Manager unter sich haben, die letzten Endes die Belange der großen Masse an Mitarbeitern regeln. Wer sich weiter oben befindet, trägt die größere Verantwortung und verfügt über mehr Entscheidungsmacht (was sich auch im Gehalt niederschlägt), ist aber immer weiter von den Menschen entfernt, die die eigentliche Umsetzung der Arbeit leisten.

Diese Art von Struktur bildet weder die Kompetenzen der Mitarbeiter ab, noch die Art und Weise, wie sich Menschengruppen natürlicherweise formieren: in einem dynamischen Netzwerk mit vielen Querverbindungen. Hierarchiefreie Firmen orientieren sich an diesem natürlichen Modell. Daher werden sie gern mit einem lebendigen Ökosystem verglichen, das sich von selbst koordiniert und durch stetigen Wandel immer im Gleichgewicht bleibt.

Was sind Voraussetzungen für erfolgreiches Arbeiten ohne Hierarchien?

Nach dem klassischen Unternehmensmodell werden die Angestellten vom Management als Ressource behandelt und verplant, also quasi fremdbestimmt. Im Gegensatz dazu kann ein hierarchiefreies Unternehmen nur funktionieren, wenn den Mitarbeitern Vertrauen geschenkt wird und ihnen zugemutet wird, dass sie selbst wissen, unter welchen Bedingungen ihre Aufgaben bestmöglich erledigt werden können.

Ein weiteres Grundprinzip, das alle hierarchiefreien Firmen gemeinsam haben, ist die Arbeit in selbstständigen Teams, wie sie auch beim SCRUM großgeschrieben wird. Innerhalb des Teams werden die Aufgaben frei auf die Mitglieder verteilt. Die Teams sind dazu angehalten, ihre Prozesse durch eigene Beschlüsse kontinuierlich zu optimieren. Dadurch, dass es keine (teils sinnlos erscheinenden) Vorschriften „von oben“ gibt, sind sowohl Arbeitszufriedenheit als auch Effizienz deutlich gesteigert.

 

Aber wenn jeder eine Stimme hat, dauern Entscheidungsprozesse doch ewig!

Es gibt eine Reihe von Missverständnissen zu hierarchiefreien Firmen, und eine der am meisten erwähnten ist die Behauptung, es wäre deutlich komplizierter und/oder zeitaufwendiger, Entscheidungen zu treffen. Der Grund dafür ist die falsche Annahme, dass Entscheidungen, die nicht von einem einzelnen Bestimmer ausgehen, entweder durch stundenlang diskutierten Konsens oder einen Wahlprozess zustande kommen müssen.

Stattdessen haben sich in hierarchiefreien Firmen andere Wege zur Entscheidungsfindung herausgebildet. Eine einfache Möglichkeit ist, dass ein Mitarbeiter, der mit der Verantwortung betreut wurde, eine neue Entscheidung zu treffen, sowohl mit Kollegen redet, die Expertise im entsprechenden Thema haben, als auch mit Kollegen, die vom Ausgang der Entscheidung betroffen sind. Der Verantwortliche soll nun die Möglichkeiten anhand dieser Informationen abwägen und den Ausgang bestimmen, den er als richtig erachtet. Durch die kollektive Intelligenz werden in kurzer Zeit qualitativ hochwertige Beschlüsse gefasst, mit denen die Mitarbeiter letztendlich auch zufriedener sind, weil sie an der Entscheidung selbst beteiligt sind.

Das klingt ja alles schön und gut, aber gibt es auch Nachteile?

Ein großes Risiko hierarchiefreier Firmen ist, dass sich versteckte Hierarchien ausbilden, die auf Cliquen oder Beliebtheit einzelner Mitarbeiter basieren. Um solche willkürlichen Entwicklungen zu verhindern, muss klar sein, dass sich hierarchiefreie Firmen nicht durch einen Mangel an Struktur auszeichnen, sondern grundlegend andere Strukturen haben. Dabei helfen Elemente der gegenseitigen Kontrolle wie ein konsequent durchgeführter Entscheidungsprozess.

Bei der Umstellung auf Hierarchiefreiheit kann es auch passieren, dass sich die mittleren Ebenen des Managements wehren, weil sie ihre Berechtigung in der Firma bedroht sehen. Damit geht einher, dass sich alle Arbeitnehmer daran gewöhnen müssen, dass es in einer hierarchiefreien Firma keine klassische Karriereleiter gibt, die es zu erklimmen gilt. Aus einer anderen Perspektive betrachtet hat aber jeder einzelne Mitarbeiter nun mehr Verantwortung und einen größeren Aktionsspielraum als früher!

Fazit: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!

Hierarchiefreie Firmen setzen ein großes Umdenken voraus, was aber äußerst lohnend sein kann. Die wichtigsten Vorteile sind auf der Seite der Arbeitnehmer eine hohe Zufriedenheit und Motivation und auf Unternehmensseite eine gesteigerte Effizienz durch schlankere Prozesse. Richtig ausgeführt kann es sogar für Firmen mit vielen tausend Mitarbeitern funktionieren, wie bei der eingangs erwähnten Buurtzorg. Diese wurde übrigens seit 2011 viermal zum besten Arbeitgeber in den Niederlanden gewählt! Wenn es weiter so positive Beispiele gibt, wird die Unternehmenslandschaft sicher in den nächsten Jahren noch um einige spannende Firmen und Start-ups bereichert!

Über den Autor

Julia

Julia hat in Jena, Osnabrück, Nottingham (England) und Trento (Italien) studiert und brachte ihre Erfahrungen seit Ende 2017 im IT-Consulting-Team ein. Mit ihrem Fach-Know-How berichtete sie uns aus der Welt der Software-Entwicklung.